Die Corona-Krise fordert uns heraus, mit Dilemma-Situationen
zurande zu kommen. Ein persönliches Dilemma: Meine Nichte lebte bis vor kurzem
bei ihren Grosseltern. Nun ist sie ausgezogen, weil sie eine Ansteckung der
alten Leute vermeiden will. Die Grosseltern sind traurig. Sie vermissen die
Fröhlichkeit und den frischen Wind, den die junge Enkelin ins Haus gebracht
hat. Das Dilemma zwischen einer möglichen Schuld an der Erkrankung des Grosis
und der Tatsache, dass die Grosseltern jetzt mehr Einsamkeit aushalten müssen.
Das grosse Dilemma: Die gegenwärtigen behördlichen Massnahmen zielen darauf ab,
die Überlastung des Gesundheitssystems und den Tod vieler Menschen am Virus zu verhindern.
Auf der anderen Seite haben die Anordnungen für sehr viele Menschen drastische existenzielle Folgen, führen zu häuslicher Gewalt, seelischen Nöten und einsamem
Sterben. Das Dilemma zwischen der maximalen Sorge um das Überleben Infizierter
und der möglichst grossen Vermeidung von sozialen und wirtschaftlichen Schäden.
Nur Verschwörungstheoretiker*innen, die das Ganze als
gesteuerte Massenhysterie deuten sowie Epidemiolog*innen mit Tunnelblick glauben,
sich diesen Dilemmata entziehen zu können. Ein ganzheitlicher und nüchterner
Blick auf die Situation zeigt hingegen, dass wir nicht umhinkommen, uns auf die
eine oder andere Seite hin schuldig zu machen. Gerade weil wir in dieser
Krisensituation menschlich handeln wollen, ist es nicht möglich, die weisse
Weste zu behalten! Der deutsche Theologe Dietrich Bonhoeffer hat diese
Problematik profund reflektiert, aber auch durchlebt und durchlitten. Er war
mit Mitglied eines konspirativen Kreises, der ein Attentat auf Adolf Hitler
durchführte. Dafür kam Bonhoeffer ins Gefängnis und wurde vor genau 75 Jahren
hingerichtet. Kurz vor seiner Verhaftung schreibt er: „Civilcourage kann nur
aus der freien Verantwortlichkeit erwachsen. Sie beruht auf einem Gott, der das
freie Glaubenswagnis verantwortlicher Tat fordert und der dem, der darüber zum
Sünder wird, Vergebung und Trost zuspricht.“[1]
Ich höre Jesu Worte: «Dir ist deine Schuld vergeben!». Das
heisst doch: Ja, du wirst nicht allem und allen gerecht werden können, aber das
soll dich nicht hindern an einer beherzten, menschlichen Tat. Lass dich nicht
leiten von deiner Angst, auch nicht von der Angst, schuldig zu werden. Die Vergebung
der Schuld, der Umstand also, dass wir nicht mehr auf die Vermeidung von Schuld
fixiert sind, ermöglicht gerade erst Freiheit. Die Freiheit in den Dilemmata
dieser Krise, mutig Verantwortung zu übernehmen und zu handeln, ohne im Voraus
schon zu wissen, dass es sicher das «Richtige» ist.
Das kann im einen Fall bedeuten, dass wir alles vorkehren,
um ein Leben zu retten. In einer anderen Situation kann es sein, dass wir gesetzte
Grenzen überschreiten und Ansteckungen riskieren, weil sonst menschliche Nähe
und Zuwendung massiv unter die Räder geraten.
Bleiben wir gesund und wach-gelassen!
Thomas Schüpbach-Schmid, Hochschulseelsorger und Leiter des Reformierten Forums
[1]
Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der
Haft, hg. von Eberhard Bethge, München 198312, S. 13
Vielen Dank Thomas für diesen tröstlichen Rundbrief! Ich wünsche Dir eine gute Zeit und freue mich, wenn auch das Forum wieder seine Tore öffnen kann.
AntwortenLöschenHerzliche Grüsse
Daniel Herrmann
Lieber Daniel, vielen Dank für deine ermutigende Reaktion auf meinen Blogbeitrag! Ja, ich hoffe, dass wir bald wieder unseren Laden aufmachen können und Begegnungen wieder analog möglich sind! Bis dann lasst uns gesund (immer Immunsystem stärken) und gelassen-wach sein.
LöschenHerzlich Thomas
Lieber Thomas,
AntwortenLöschenvielen Dank für diesen Eintrag! Ja, lassen wir uns nicht leiten von der Angst. Sondern von der Hoffnung. Ich wünsche dir frohe Ostern.
Herzliche Grüsse, Debora