Worum geht es beim Weihnachtsfest? Manchmal kommt Hilfe von unerwarteter Seite: Die Philosophin Hannah Arendt (1906-1975) hat mich mit ihrer Rede von der "Geburtlichkeit" oder Natalität neu inspiriert, dieser Frage auf den Grund zu gehen.
Hannah Arendt schreibt 1960 in ihrem Hauptwerk „Vita activa oder vom tätigen Leben.“[1] : «Weil jeder Mensch auf Grund seines Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen.» (242)
Diese Sätze umschreiben knapp, was die Philosophin unter „Geburtlichkeit“ versteht. Ihr Lehrer Martin Heidegger hatte das „Sein zum Tode“, also unsere Sterblichkeit, in das Zentrum seines philosophischen Denkens gestellt. Im Kontrast zu ihm erkannte Arendt, dass jeder einzelne Mensch ein neuer Anfang ist und selber einen neuen Anfang machen kann. Wir sind zum Anfangen begabte Wesen.
Anfangen-können ist, was uns Menschen im Kern ausmacht, über das Arbeiten zu unserer Lebenssicherung und das Herstellen von technischen Dingen hinaus. Anfangen ist performatives Wirken. Es heisst in der Welt eine Initiative ergreifen und im Sprechen und Tun seine Einzigartigkeit leben.
Diese „condition humaine“ ist fundiert in unserer Geburt, darum Arendts Begriff „Geburtlichkeit“. Denn mit unserer Geburt fingen wir als einzigartig Neue an!
Weiter schreibt Hanna Arendt: „Mit der Erschaffung des Menschen erschien das Prinzip des Anfangs, das bei der Schöpfung der Welt noch gleichsam in der Hand Gottes und damit ausserhalb der Welt verblieb, in der Welt selbst und wird ihr immanent bleiben, solange es Menschen gibt;“ (242)
Mit dem Anfangen-Können führen wir Menschen also Gottes Schöpfertätigkeit weiter: So realisieren wir sogar unsere Gottesebenbildlichkeit.
Wir Menschen sind nicht nur ein neuer Anfang in der Welt. Wir sind auch stets zum Neuanfangen Begabte und Aufgerufene!
In einem ihrer Briefe schreibt Hanna Arendt, dass ihr dieser Gedanke der „Geburtlichkeit“ anlässlich einer Aufführung von Händels Oratorium „Der Messias“ gekommen sei. „Das Halleluja“, so schreibt sie, „liegt mir noch in Ohr und Gliedern. Mir wurde zum ersten Mal bewusst, wie grossartig das: Es ist uns ein Kind geboren, ist. Das Christentum war doch nicht so ohne.“
Diese Worte erlauben es, den Kerngedanken von der Geburtlichkeit in Verbindung zu setzen mit der Geschichte von der Geburt Jesu. Im 1. Kapitel des Matthäus-Evangeliums (Verse 18-25) wird so von ihr erzählt:
18Zur Geburt von Jesus Christus kam es so: Seine Mutter Maria war mit Josef verlobt. Sie hatten noch nicht miteinander geschlafen. Da stellte sich heraus, dass Maria schwanger war –aus dem Heiligen Geist. 19Ihr Mann Josef lebte nach Gottes Willen, und er wollte Maria nicht bloßstellen. Deshalb wollte er sich von ihr trennen, ohne Aufsehen zu erregen.20Dazu war er entschlossen. Doch im Traum erschien ihm ein Engel des Herrn und sagte: »Josef, du Nachkomme Davids, fürchte dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen. Denn das Kind, das sie erwartet, ist aus dem Heiligen Geist.21 Sie wird einen Sohn zur Welt bringen. Dem sollst du den Namen Jesus geben. Der er wird sein Volk retten: Er befreit es von allem Getrenntsein.» 22Das alles geschah, damit in Erfüllung ging, was der Herr durch den Propheten gesagt hat:23»Ihr werdet sehen: Die Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn zur Welt bringen. Dem werden sie den Namen Immanuel geben«, das heißt: Gott ist mit uns. 24Josef wachte auf und tat, was ihm der Engel des Herrn befohlen hatte: Er nahm seine Frau zu sich. 25Aber er schlief nicht mit Maria, bis sie ihren Sohn zur Welt brachte. Und er gab ihm den Namen Jesus.
Dazu assoziiere ich ein Zitat von Hanna Arendt:
„Der Neuanfang steht stets im Widerspruch zur statistisch erfassbaren Wahrscheinlichkeit, er ist immer das unendlich Unwahrscheinliche; er mutet uns daher … immer wie ein Wunder an. … und das, was ‚rational‘, d.h. im Sinne des Berechenbaren, schlechterdings nicht zu erwarten steht, doch erhofft werden kann.“ (243)
„Der Neuanfang mutet uns immer wie ein Wunder an.“ … Er ist unerrechenbar, unerwartet.
Das klingt in dieser Weihnachtsgeschichte des Matthäus an. Die Formulierung "schwanger aus dem Heiligen Geist" können wir als Metapher verstehen, dass der Anfang dieses Menschen als Anfang einer neuen und definitiven Immanenz Gottes in der Welt geschieht - unerwartet, als Wunder. Und doch keineswegs ausserhalb der Kausalitäten dieser Welt. Das macht der - gerade vor dieser Geschichte aufgeführte -Stammbaum des Josef als Vater von Jesus deutlich.
Dass der Anfang zwar nicht errechnet, aber sehr wohl erhofft werden darf, findet sein Echo im Zitat aus Jesaja 7. Da klingt die Hoffnung des Volkes Israel auf das Messias-Kind und damit die menschliche Sehnsucht nach einem heilvollen Anfang an.
Berührt vom Wunder des Neuanfangs in Maria wagt Josef selber einen Neuanfang. Er handelt nicht nach den Gepflogenheiten seiner Zeit, in der man eine „von einem anderen“ schwangere Frau wegschickt. Er nimmt seine Verlobte zu sich, er steht zu ihr. Und er schützt sie und das keimende Leben in ihr, indem er seine sexuellen Bedürfnisse zurückstellt.
Das Traummotiv in dieser Geschichte lässt mich vermuten, dass es offenbar eine andere Bewusstseinsstruktur braucht, um das Wunder der Neuanfänge auch wirklich wahrzunehmen. Hanna Arendt selber schreibt, dass das rationale Bewusstsein des Errechnens und des zu Erwartenden den geschehenden Anfang nicht erfassen kann.
Vielleicht brauchen wir das Bewusstsein des Geschehenlassens, der Intuition, des achtsamen Hörens, um das Wunder wahrzunehmen. Und sicher auch eine Klarheit darüber, wer wir sind und sein wollen. Und dafür bietet uns die Philosophin ihre Einsicht in unsere Begabung zum Anfangen an.
In einer Zeit, die das Leben und den Tod vor allem errechnet, vermisst und mit den daraus abgeleiteten Szenarien auch viel Angst erzeugt, wäre eine solche Erweiterung des Bewusstseins hilfreich.
Hannah Arendt erwähnt noch einen weiteren Aspekt zur „Geburtlichkeit“: „Und diese Begabung für das schlechthin Unvorhersehbare … beruht ausschliesslich auf (unserer) Einzigartigkeit, … die mit der Tatsache der Geburt gegeben ist, … als würde in jedem Menschen noch einmal der Schöpfungsakt Gottes wiederholt und bestätigt.“ (243f)
Du und ich, wir sind alle ein Mensch, wie es ihn oder sie vor uns nie gab und nach uns nie mehr geben wird: ein jeder, eine jede von uns ein ganz besonderer Anfang in diesem Universum.
Feiern wir diesen an Weihnachten!
Thomas Schüpbach-Schmid, Hochschulseelsorger
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