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Ich bin eine von zehn. Gedanken zum Endometriosis Awareness Month

 



Es ist Samstagabend. Ich stehe in meiner kleinen Küche und blättere in Büchern. Vor mir liegt mein Notizbuch, hinter mir köchelt ein Curry. Ich bereite mich auf den Women’s Circle vor – eine Gesprächsgruppe für studierende Frauen* zu Themen rund um eine zyklische Lebensweise, die bald wieder im forum³ stattfindet – und suche nach einem passenden Gedicht, um die Teilnehmenden auf den Abend einzustimmen. Das Curry bereitet mich auf den bevorstehenden Winter vor. Nicht die Jahreszeit – Gott sei Dank – sondern meinen inneren Winter, meine Mens. Meistens habe ich während der ersten zwei, drei Tage nicht die Kraft, mir Essen zuzubereiten. Habe ich gerade keine Schmerzen, muss ich mich von ihnen erholen. Deshalb koche ich jeweils in den Tagen zuvor etwas Feines, um meinem Körper wenigstens einmal pro Tag etwas Nahrhaftes zuzuführen. Auch meine Einkäufe und Hausarbeiten erledige ich vorab und schliesse bei Arbeit und Uni so viel ab wie nur möglich, damit ich während dieser ersten Tage meine Ruhe habe und «nichts muss» – nur sein. Manchmal ist das Sein erholsam und ich lade meine Batterien auf, reflektiere über mein Leben, was darin gut und schön ist und was ich eigentlich schon lange loslassen wollte. Manchmal leeren die Schmerzen und die Tränen meine Batterien – auch wenn ich drei Tage im Bett war und «nichts» gemacht habe. Diesen Monat hat sich mein Zyklus um fünf Tage verschoben. Genau so, dass der Women’s Circle auf Zyklustag 2 fällt, anstatt auf den fein säuberlich berechneten Tag 6. Zum Glück war es bisher ein guter Monat. Und zum Glück ist der Women’s Circle eine Herzensangelegenheit und ein Raum, in dem ich mich sicher fühle. Sicher genug auch, um ihn notfalls kurzfristig zu verschieben, sollte es zu viel für mich werden.

Dumm nur, dass das allfällige Verschieben meinen Plan für die kommenden Wochen möglicherweise so durcheinanderbringen würde, dass der zusätzliche Stress vielleicht wiederum meine nächste Mens negativ beeinflusst. Dennoch versuche ich, optimistisch und mir gegenüber sanft zu sein und Selbstannahme zu üben. Ich rede mir gut zu: Es ist alles halb so wild; die Welt geht nicht unter. Trotzdem ist mein Puls erhöht und meine Brust fühlt sich enger an, als mir lieb ist. Einmal tief durchatmen; kurz die Augen schliessen. Nochmal: Es kommt alles schon gut. Irgendwie.

Wer wie ich mit Adenomyose und/oder Endometriose lebt, kennt diese Gedanken und Gefühle wahrscheinlich nur zu gut. Alles will wohl geplant sein. Ich habe immer mindesten drei Notfallpläne, mindestens zwei Wochen vor der Menstruation sorgfältig ausgearbeitet, jederzeit einsatzbereit. Und hoffe zugleich, dass ich dann nur auf einen zurückgreifen muss. Nachhaltig ist dieses präventive Gestresstsein und diese Planerei für alle «Was-wenns» nicht. Ich möchte doch auch gerne spontan mein Leben leben; einfach der Nase nach und wonach mir gerade ist; ein «Luftibus» sein. Ich habe gehört, das sei ganz toll. Ich glaube es den Menschen, die davon erzählen.

Ich habe meine Diagnose «Adenomyose» vor ziemlich genau zwei Jahren erhalten. «Endometriose» ist eine zusätzliche Verdachtsdiagnose – meinen Bauch aufschneiden lassen will ich nur, falls es absolut notwendig würde. Endlich habe ich einen Namen für meine Schmerzen; für das Herzrasen, wenn sie einsetzen; die kalten Schweissperlen auf meiner Stirn und entlang der Wirbelsäule; meine Atmung, die viel zu schnell geht und dennoch viel zu wenig Luft in die Lungen pumpt; das Abwägen, ob ich schmerzgekrümmt eine Bettflasche mache – weil sie könnte eigentlich helfen – oder ob ich doch lieber einfach im Bett bleibe, weil aufstehen eigentlich nicht geht; das Schwarzwerden vor den Augen, wenn ich es gerade noch rechtzeitig auf die Toilette schaffe; das Abwarten, bis das Ibuprofen nach einer Stunde endlich ein wenig wirkt (hoffentlich); die zwei Stunden Dämmerschlaf, sobald die Schmerzen leicht abklingen, wonach ich noch müder bin als zuvor. Und ist das alles mal vorbei, weiss ich, in rund vier Wochen erwartet mich dasselbe wieder. Und wieder. Und wieder. Und: Was ist, wenn die Krankheit fortschreitet? Wenn die Schmerzmittel eines Tages nicht mehr genügend wirken? Wenn ich mal keine Kinder haben kann, obwohl ich gerne welche hätte? Wenn ich mal schwanger werde, aber das Kind verliere oder schlimme Schwangerschaftskomplikationen habe? Wenn ich eine Angststörung entwickle oder an wiederholten Depressionen leide? Was dann?

Mittlerweile habe ich akzeptiert, dass die Adenomyose wohl oder übel meine Begleiterin ist. Es ist in Ordnung, dass meine Coping-Strategien sind, wie sie sind – nachhaltig hin oder her. Ich brauche sie und sie geben mir Halt und Handlungsspielraum – auch wenn ich mir wünschte, er wäre grösser oder anders. Ich lerne, Grenzen setzen, auf meinen Körper zu hören, im Hier und Jetzt zu leben. Ich lerne meine Sozialisierung in unserer Leistungsgesellschaft um, in der der Wert eines Menschen an seine Leistungsfähigkeit geknüpft ist. Ich baue tiefere Bindungen zu Menschen auf als zuvor. Ich bin da, wenn mich jemand braucht, weil ich weiss, wie es ist, wenn man Hilfe braucht. Ich habe die Adenomyose als Begleiterin akzeptiert, bis ich plötzlich wieder heulend neben dem Kühlschrank sitze. Weshalb ich?

Das Leben mit einer chronischen Krankheit mit starken Schmerzen ist nicht einfach. Darüber reden auch nicht. Deshalb schreibe ich heute darüber. Denn es ist März, der Endometriosis Awareness Month. Im März und April trage ich an meinen Stofftaschen eine gelb-violette Schleife. Gelb für Endometriose; violett für Adenomyose – im April ist Adenomyosis Awareness Month. (Die gelbe Schleife steht ansonsten u.a. auch für Solidarität mit politischen Gefangenen.) Um es klarzustellen: Eigentlich habe ich nicht Lust oder Energie, meine Mitmenschen aufzuklären. Mit Adenomyose zu leben, zu arbeiten, zu studieren, eine gute Tochter, Freundin, Partnerin, Pflanzenmami, Sportlerin, Aktivistin – ein Mensch – zu sein, ist wirklich anstrengend genug. Und doch tue ich es, indem ich darüber spreche, indem ich Grenzen setze und für mich und meine Bedürfnisse einstehe. Ich exponiere mich, setze mich Vorurteilen aus, mache mich verletzlich, weil ich weiss, es gibt in der Welt viele Menschen, die gerade erst von ihrer Erkrankung erfahren oder seit Jahrzehnten unsichtbar damit allein bleiben. Genauer: rund 10% der menstruierenden Menschen. Vielleicht versinken sie wie ich im wattigen Grau von Wut, Depression, Verzweiflung und Ohnmacht, in dem ich vor zwei Jahren versank, als ich endlich eine Diagnose für meine Erfahrungen erhielt.

Wir können uns gegenseitig unterstützen und unterstützen lassen. Meine beste Freundin schreibt sich in ihren Kalender, wann ich meine Mens habe, einfach um mich dann zu fragen, wie es mir geht und um Zeit zu haben für ein Telefon, sollte ich es brauchen. Mein Partner bringt mir Schoggi vorbei oder eine ganze Tüte Essen, weil er weiss, dass ich sonst vielleicht drei Tage lang nichts esse. Oder er kommt vorbei und putzt, ohne zu fragen, meine Wohnung und sitzt mit mir wortlos in die Sonne, wenn sie scheint. Diese Menschen erinnern mich daran, dass ich nicht allein bin. Es wird deshalb nicht einfacher, aber sie tragen mich, wenn meine eigene Last zu schwer wird und erfreuen sich mit mir an meinen Meilensteinen und wenn sich das Leben gerade mal leicht anfühlt.

Vielleicht müssen wir eines Tages nicht mehr aufklären. Vielleicht leben wir einmal in einer Welt, in der mehr Verständnis und Empathie und vor allem Strukturen vorhanden sind, die Raum bieten für die Bedürfnisse aller Menschen. Dafür setze ich mich ein. Deshalb kläre ich auf. Deshalb rede und schreibe ich darüber. Denn man sieht es uns nicht an. Siehst du uns bei der Arbeit, im Vorlesungssaal, beim Joggen oder an der Geburtstagsparty deiner Freundin, haben wir gerade einen guten Tag oder ein dreistündiges Ibuprofen-Fenster. Du siehst uns nicht, wenn wir schmerzverkrümmt im Bett oder auf dem Badezimmerboden liegen. Doch es gibt uns. Ich bin eine von zehn.

J.K.

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