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Wozu noch Weihnachtsgeschichten?

Durch die Jahrhunderte millionenfach vorgelesen, erzählt, gespielt, vertont, besungen, nachgedichtet, gemalt, gemeisselt, verfremdet worden ist sie, die Weihnachtsgeschichte in der Bibel, die von der Geburt des Kindes in der Krippe erzählt. Sie hat einen ganzen Kosmos von neuen Geschichten inspiriert – bis hin zu den auch in diesem Advent neu produzierten Bändchen mit Weihnachtsgeschichten in den Buchhandlungen. Noch heute gehört das Vorlesen von Weihnachtsgeschichten für viele zum weihnächtlichen Ritual. Offenbar eine gute Geschichte.

Eine gute Geschichten berührt uns. Ob sie sich historisch genauso zugetragen hat, ist dabei kaum erheblich. Denn gute Geschichten vermitteln die Wahrheit der Seele. Sie lassen Sinn aufleuchten. «Dieser Sinn kommt in Form von Geschichten, die uns erzählen, wer wir sind und wo wir herkommen und wer unsere Leute sind … und was gut ist und was schlecht und wie sich jemand verhält, (...) was ehrenhaft ist, was richtig ist, wo Widerstand beginnt. Diese Geschichten verbinden uns mit einer gemeinsamen Erinnerung und einer möglichen Zukunft, denn sie sind ja auch Anleitung zum Handeln und Landkarten des Lebens, das vor uns liegt», schreibt der österreichische Schriftsteller und Historiker, Philipp Blom, in seinem neuesten Buch »Hoffnung» (S.84).

Gute Geschichten ordnen die sich aufdrängende, unübersichtliche Welt und macht sie bewohnbar. Denn sie fügt das Individuum ein in das grosse Ganze, das die Erzählung zum Ausdruck bringt. Geschichten kartografieren die Welt und machen sie begehbar. Sie transportieren Moral, ohne moralistisch zu sein. Sie schaffen Gemeinschaft unter denjenigen, die gleiche Geschichten teilen. Geschichten schaffen Zugang zum Kosmos anderer Kulturen. Durch ihre metaphorische Sprache vermitteln sie Transzendenz in dieser Welt. Aus einer gemeinsamen Erinnerung erzählen sie von Verwandlung, lassen sie Wege in die Zukunft aufleuchten.

Kurz: Geschichten stiften Identität, Sinn und Hoffnung.

Eine solche Geschichte ist auch ein Text aus der hebräischen Bibel, der oft im Advent gelesen wird. Er stammt vom Propheten Jesaja:

Das Volk, das in der Finsternis geht,
hat ein grosses Licht gesehen,
die im Land tiefsten Dunkels leben,
über ihnen ist ein Licht aufgestrahlt.
Du, Gott, hast die Nation zahlreich werden lassen,
hast die Freude für sie gross gemacht.
Sie haben sich vor dir gefreut,
wie man sich freut in der Erntezeit,
wie man jubelt, wenn man Beute verteilt.
Denn das Joch, das auf ihnen lastet,
und den Stab auf ihrer Schulter,
den Stock dessen, der sie treibt,
hast du zerschmettert.
Denn jeder Soldatenstiefel, der dröhnend aufstampft,
und der Mantel, der im Blut geschleift ist,
der wird brennen,
wird ein Frass des Feuers sein.
Denn ein Kind ist uns geboren,
ein Sohn ist uns gegeben,
und auf seine Schulter ist die Herrschaft gekommen.
Und er wird genannt:
Fürst des Friedens.
Die Herrschaft wird grösser und grösser,
und der Friede ist grenzenlos.
(Jesaja 9,1-6)

Diese Geschichte berichtet paradigmatisch von Identität (des Volkes, das im Dunkel lebt), von Sinn (der Freude) und Hoffnung (die Geburt des Kindes, das den Frieden bringt).

Wenn wir hinter die historischen Bezüge und die kulturell geprägte Metaphorik dieser Geschichte zurückfragen, bringt sie zur Sprache, dass dieser so oft gewalttätig erlebten Welt ein Zug, eine Kraft innewohnt, welche die Entwicklung der Dinge hin zum Guten, zum Heilvollen verlockt. Die überraschende Begründung mit der Geburt eines Kindes kann ich im Sinne von Hanna Arendts Motiv der «Natalität» verstehen: Jede Geburt macht einen neuen Anfang in der Welt. Sie ist ein Zeichen, dass in jeder noch so aussichtslosen Situation ein Neuanfang möglich ist, dass Menschen mit sich selbst und den anderen stets neu beginnen können.

Hoffnungsgeschichten benennen das Vorfindliche, weisen aber darüber hinaus. Das ist ihr Wagnis.

Die Geschichte von der Geburt des Christuskindes im Stall von Bethlehem sagt in jüdisch-christlicher Form ganz grundsätzlich – ohne jede konfessionelle Anreicherung – dass es in der Welt eine Kraft gibt, die will, dass es gut kommt und mit der wir uns verbünden können. Und wenn wir das tun, gewinnt unser Leben Sinn und Hoffnung.

Nicht ob ich Christ bin oder Agnostikerin, nicht ob ich mit Religion, Kirche oder Moschee viel oder nichts am Hut habe; nicht all das scheint mir der eigentliche Glaubensakt zu sein. Sondern der, ob ich mich als Mensch verstehe, der davon ausgeht, «dass er (...) am Rande des Universums ist. Einem Universum, das taub ist für seine Musik, gleichgültig gegenüber seinen Hoffnungen wie auch seinen Leiden und seinen Verbrechen» (Jacque Monod, 1970) – oder ob ich einer Welt lebe, in der dieser «Drive», diese Verlockung hin zum Guten am Werk ist, wovon die Weihnachtsgeschichten künden. 

Für beide Optionen dieser Entscheidung lassen sich gute Argumente, Erfahrungen und Evidenzen anführen. Wie immer ich mich entscheide, beides bleibt schlussendlich ein Akt des Glaubens.

Weil mich die Geschichte von Jesaja berührt; weil es überall auf der Welt solche Geschichten des Friedens gibt; weil die Menschen Sehnsucht haben nach dem Guten und Heilvollen (manchmal auch in schrecklich pervertierter Weise); weil Menschen immer neu beginnen, sich an finsteren Orten der Welt für Gerechtigkeit, Frieden und Menschlichkeit einzusetzen– darum will ich der Botschaft der Weihnachtsgeschichten immer neu glauben lernen.

Welcher Geschichte willst du glauben?

Thomas Schüpbach-Schmid, Hochschulseelsorger

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Kommentare

  1. Lieber Thomas, vielen lieben Dank für deine Worte - einmal mehr. Gerne entscheide ich mich einmal mehr für diesen Akt des Glaubens: dass dieser Drive, diese Verlockung hin zum Guten, stets sein Werk vollbringt - mit mir, mit uns, mit dieser Welt, in dieser Welt und drüberhinweg :-) Ich freue mich auf deine selbst geschriebene moderne Weihanchtsgeschichte und wünsche dir ganz friedvolle, hoffnungsvolle Festtage.

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