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VIELLEICHT - EINE FORTSETZUNGSGESCHICHTE

 


«Sieh dich an.» Mit einer kapitulierenden Handgeste schlägt sie die Luft vor sich runter und senkt zeitgleich ihren Blick. Ein kurzer, etwas zurückhaltender Seufzer entweicht Frau Marianne G., nachdem sie sich reden hörte. Sie stützt sich an der Tür und verlässt das Badezimmer. In galoppartigem Schleichtempo schreitet sie in das Wohnzimmer und sucht nach ihren Zigaretten. «Da seid ihr!», spricht sie in einem bemerkenden Tonfall aus. Sie greift nach einer Zigarette, öffnet die Tür zum Balkon und schreitet hinaus zum Geländer.

Während sie raucht, lässt Marianne ihren Blick gerne durch die Gegend schweifen. Sie erinnert sich meistens nicht mehr an ihre Gedanken. Sie erinnert sich noch gut an Dinge. Sie ist nicht vergesslich - zumindest denkt sie das. Sie ist eher der Überzeugung, dass ihr keine neuen Gedanken mehr kommen. Vielen Gedankensorten ist sie schon auf diesem Balkon begegnet. In letzter Zeit werden die Gedankensorten überschaubarer. Marianne fühlt, wie eine engstirnige Wahrnehmung in ihr heranwächst, sie jedoch nichts dagegen unternimmt. Was eine solche Entwicklung zu bedeuten hat, fragt sich Marianne nicht. Schon eine längere Weile nimmt sie ihre Veränderung - körperlich, psychisch - als Beifahrerin schockiert wahr.

Mit einem kleinen Knoten in der Brust und gestandenen Augen blickt Marianne plötzlich einem Kind nach. Das Kind ist kurz zuvor gefallen. Es ist Marianne schon eine Weile aufgefallen, da es ganz alleine auf dem kleinen Quartierplatz spielt. Doch erst durch das Geschrei hat das Kind die ungewollte Aufmerksamkeit Mariannes. Das Kind hat Marianne noch nicht bemerkt. Es heult ein bisschen, schaut umher. Niemand in Sicht - das Kind wischt die Tränen ab und beruhigt sich. Angezogen vom zufälligen Schauspiel lässt Marianne ihren Blick vom Kind nicht ab. Sie raucht weiter, gespannt irgendwie. Das Kind hat nämlich Marianne im Labyrinth der grauen Klotzbalkone entdeckt und schaut wiederholt zu ihr hinauf.

Das Kind - es heisst Edgar - winkt ihr zu. Der Junge trägt eine verschlissene, altblaue Jeans und einen schwarzen Pullover. Der Schmerz vom Sturz zuvor ist verflogen, und seine Aufmerksamkeit ist vollends auf die rauchende Frau auf dem Balkon gerichtet. Sie sieht irgendwie traurig aus…, denkt er.

Der Junge überlegt einen Moment und geht in die Richtung des grauen, hässlichen, alten Wohnblocks, wo Marianne noch immer auf dem Balkon stehend ihre Zigarette raucht.

Was will dieser Junge da von mir? Oder bilde ich mir ihn nur ein? Vielleicht wegen der Zigarette?

«He, Sie da oben!» Der Junge schaut zu Marianne hoch und grinst. «Warum sehen Sie denn so traurig aus?»

Der spricht mit mir. Was soll ich ihm antworten?

«Ich bin nicht traurig, Junge. Und jetzt mach, dass du Land gewinnst!»

Marianne grinst, als der Junge sich auf der Stelle umdreht und mit gesenkten Schultern weiter seines Weges zieht. Sie nimmt den letzten Zug der Zigarette und drückt sie im schon überfüllten Aschenbecher aus.

Wieso bin ich nur immer so? Ich sollte mich bei ihm entschuldigen. Er hat es bestimmt nicht böse gemeint.

Während sich Marianne das denkt und zurück in ihre nicht allzu grosse Wohnung geht, hat Edgar schon einige Meter zurückgelegt und sich schon längst seine eigenen Gedanken gemacht. Er hat einen Plan. Und den wird er in die Tat umsetzen. Ganz einfach.

Marianne zieht ihre Schuhe an und sucht ihren Schlüssel, bevor sie ihre Wohnung verlässt. Sie wohnt im dritten Stock. Einen Lift gibt es hier nicht.

Die frische Luft tut ihr gut, und sie beginnt, den Jungen zu suchen.

Wo könnte er wohl stecken?

Einige Zeit später steht Marianne am Ufer des Flusses, der die Stadt durchströmt. Der Fluss glitzert im Sonnenschein, und Enten tummeln sich da und dort, die von einigen Familien gefüttert werden. Die Sonne scheint, und es ist warm. Marianne hat den Jungen gesucht, aber bisher vergeblich. Sie ist durstig. 

«Warum tu ich mir das an, verdammt?»

Wegen der Entschuldigung.

In ihrer Erinnerung erscheint ihr blass, dass hier in der Nähe ein Brunnen sein müsste. Marianne sucht ihn.

Wer sucht, der findet. So heisst es doch, oder?

Aber daran hat Marianne schon lange aufgehört zu glauben. Ihr ganzes Leben hatte sie gesucht, nach etwas Glück und Zufriedenheit, einem Ort, an dem sie sich zuhause fühlt, ja sogar nach einer Arbeit, die ihr Spass macht, nach Lebenssinn und der grossen Liebe. Aber irgendwie hat sie ihr Leben seit damals nicht mehr wirklich rumgekriegt. Und gefunden hat sie auch nichts, ausser Zigaretten - und ihren orangen Kater. Er ist der Einzige, der ihr in diesen Tagen noch ein Lächeln auf die Lippen zaubern kann. Sie rettete ihn aus Tierheim, weil niemand einen halbblinden, alten, lahmen Kater aufnehmen wollte. Alles egozentrische Penner! denkt sie sich. Doch dass sie selbst besser ist, glaubt sie irgendwie nicht.

Wo steckt Edgar? Plötzlich fragt sich Marianne, woher sie überhaupt seinen Namen kennt. Sie läuft dem Ufer entlang und sieht bald schon den Brunnen. Eben doch nicht vergesslich, denkt sie sich.

Edgar eilt nach Hause zurück. Er ist allein. Wo seine Mutter über Nacht geblieben ist, weiss er nicht. Er ist aber auch nicht überrascht. Es ist nicht das erste Mal. Schnell holt er einige Sachen aus seinem Zimmer und macht sich wieder auf den Weg. Gerade, als er um die Ecke biegt, sieht er, wie die Frau vom Balkon davoneilt. Edgar ist ganz aufgeregt, er liebt es, einen Plan in die Tat umzusetzen. Er folgt der Frau, beobachtet sie, wie sie in Gedanken versunken auf den Fluss hinausstarrt, den Fluss hinunterläuft und sich schliesslich auf den Rand eines alten Brunnens setzt. Er lächelt in sich hinein, als er auf sie zugeht. «Hallo Mama!». Marianne schreckt aus ihrem Tagtraum. Ganz verdutzt starrt sie auf die knallorangen Haare des kleinen Jungen. Es fühlt sich so an, als würde ihr der Boden unter den Füssen weggerissen. Verwirrt schaut Marianne umher, doch niemand ausser ihr scheint den Jungen zu beachten.

Er meint doch nicht etwa mich?

Doch die strahlenden Kinderaugen sind unmissverständlich auf sie gerichtet.

«Ich bin nicht deine Mutter», korrigiert sie ihn verdutzt.

Edgar schaut sie weiterhin lächelnd an, kein Zweifel in seinem Blick, nur Wärme und kindliche Hoffnung.

«Ich weiss», antwortet er schlicht.

«Dann nenn mich auch nicht so!», blafft Marianne ihn an, «du hast mir einen schönen Schrecken eingejagt. Ich und ein Kind. Das wäre mal was.»

«Hast du keine Kinder?»

Marianne kann diese Frage nicht ausstehen. Aber beim Anblick des aufrichtigen Interesses im sommersprossigen Spitzbubengesicht, unterdrückt sie ein genervtes Augenverdrehen und antwortet schlicht: «Nein».

«Aber du hast einen Kater, oder?»

«Ja, und?», antwortet sie. Was will der Junge eigentlich?

Edgar zuckt bloss lächelnd mit den Schultern und setzt sich neben Marianne auf den Brunnenrand. Eine Weile schaut er auf ihre beiden Spiegelbilder auf der Wasseroberfläche; Mariannes vom Alltagstrott gekennzeichnete Reflexion, die noch immer leicht verdutzt den rothaarigen Jungen betrachtet, und sein eigenes Abbild, das noch immer erfüllt mit Tatendrang war.

Dann schaut er wieder Marianne an: «Mama».

«Hör auf, mich so zu nennen!» Nun ist Marianne am Ende ihrer Geduld angelangt: «Jetzt wird’s mir zu bunt. Ich bin bloss rausgekommen, um mich bei dir zu entschuldigen. Es tut mir leid, dass ich vorhin so gemein war. So, jetzt habe ich es gesagt und gehe wieder nach Hause. Diesen Mama-Schwachsinn muss ich mir nicht weiter anhören».

Sie steht auf und setzt bereits zum ersten Schritt an, doch ein Ziehen an ihrem Jackenärmel hält sie davon ab. Genervt dreht sie sich um und nimmt nochmal alle Geduld zusammen, die sie aufbringen kann, um dem Jungen vor ihr zu erklären, dass sie nicht seine Mutter sei und diese wahrscheinlich zu Hause auf ihn warte.

Doch noch bevor sie den Mund öffnen kann, sagt Edgar: «Hier», und streckt ihr etwas in entgegen. Wortlos schaut Marianne auf das Objekt, das unschuldig auf der offenen Kinderhand liegt. Sie braucht einen Moment, um zu erkennen, dass es sich dabei um einen kleinen Stoffzwerg handelt. Wer könnte es ihr auch verübeln? Die Farben sind bereits aus dem Stoff gewichen, und der gräuliche Bart ist so stark verfilzt, dass Marianne darauf schliessen kann, dass dieser Zwerg seine besten Jahre bereits hinter sich hat. So wie ich auch, denkt sie für sich, während ihr Blick immer noch auf das Spielzeug gerichtet ist. Bin ich auch so verblasst und verwahrlost? fragt sie sich insgeheim. Sie weiss nur zu gut, dass sie die Antwort darauf bereits kennt. Doch es ist nicht ihr Äusseres, das diesem kleinen, abgenutzten Zwerg so sehr ähnelt, sondern ihr Inneres. Marianne hatte in den letzten Jahren die fröhliche Pracht aus bunter Freude aus ihrem Leben verschwinden sehen, schleichend, so dass sie es selbst kaum bemerkt hatte, genau wie wohl auch die Farben Stück für Stück aus diesen winzig kleinen Kleidungsstücken des Zwerges verschwunden sind. Doch zu Mariannes Erstaunen scheint Edgar dieses traurige Erscheinen des Zwerges nicht zu bemerken. «Ist der nicht schön?», fragt er Marianne mit einem vor kindlicher Freude strahlenden Lächeln. „Den habe ich schon mein ganzes Leben.“

«Oh, ja», gibt Marianne räuspernd zurück, ohne dabei den Blick vom Zwerg abzuwenden, «Er sieht sehr... hübsch aus. Wie heisst er denn?»

Edgar blickt nun selbst nachdenklich auf die kleine Figur in seiner Hand. «Das weiss ich nicht», sagt er schliesslich nach einer kurzen Pause. «Er will es mir nicht sagen. Er spricht nicht so gerne mit mir, weisst du. Aber das ist mir egal. Ich spreche trotzdem mit ihm. Damit wir beide nicht so allein sind. Ich habe mir immer bei mir, und – »

«Das ist aber schön», erwidert Marianne schnell, um den Redeschwall, der beinahe unaufhaltsam aus dem Mund des Kindes zu sprudeln scheint, zu unterbrechen. Es tut ihr leid, dem Jungen einfach so ins Wort zu fallen, doch sie wird gerade von einer Einsicht überrumpelt: Sie ist wie Edgar. Edgar, der zu seinem Zwerg spricht wie zu einem Freund, obwohl er genau weiss, dass der Zwerg ihm niemals antworten wird. Marianne fühlt sich an ihre täglichen Gespräche mit ihrem Kater erinnert, und wie einsam sie sich trotzdem fühlt. Edgar muss sich genauso fühlen.

«Hast du auch einen Zwerg, Mama?», reisst der Junge Marianne aus ihren Gedanken. Sie beschliesst, über den erneuten Gebrauch des Wortes «Mama» hinwegzusehen und erwidert: «Nein, einen Zwerg habe ich nicht. Ich habe nur meinen Kater.»

Edgar blickt Marianne lange an, ohne dabei etwas zu erwidern. Die Stille wird langsam unangenehm, doch aus irgendeinem Grund will Marianne den Jungen noch nicht verlassen. «Möchtest du die beiden einander vorstellen? Vielleicht verrät dein Zwerg meinem Kater ja seinen Namen», schlägt sie schliesslich nach kurzem Zögern vor.

Ein breites Lachen schleicht sich in Edgars Gesicht, während er eifrig nickt. Eilig stopft er den kleinen Zwerg in seine Hosentasche, wobei er sorgfältig darauf achtet, dass der Bart nicht zerzaust.

«Na, dann lass uns losgehen», sagt Marianne, und gemeinsam machen sie sich auf den Weg zu Mariannes Wohnung.

 

Vor der Wohnungstür tappt Edgar erwartungsvoll auf seinen kleinen Füssen hin und her, während Marianne die Schlüssel aus der Jackentasche hervorkramt. Sie öffnet ihm die Tür, doch der Junge zögert für einen Augenblick, bevor er eintritt.

Ich sollte doch eigentlich zu Fremden nach Hause gehen.

Er zuckt die Schultern und grinst.

Aber sie hat einen Kater, den will ich kennenlernen.

Und so tritt er ein und guckt neugierig hinter der Garderobe hervor, hält Ausschau nach dem Kater. Und prompt streunt dieser stolz hinter dem Sofa hervor. Majestätisch stolziert der Kater auf den Jungen zu, und nachdem er Edgar einige Momente lang mit zurückhaltendem Misstrauen beäugt hat, streicht er ihm um seine kurzen Beine und schmiegt den Kopf an ihn. Marianne setzt Wasser auf und kocht sich einen Roiboos-Tee. Gedankenverloren betrachtet sie den Jungen und ihren Kater. Edgar schmunzelt. «Sieh mal, Mama, der Kater mag den Zwerg!»

 

Sieh nur zu, dass er den armen Zwerg nicht völlig verwüstet. So grau wie der ist, könnte er ihn ganz einfach auch mit einer Maus verwechseln.

Etwas schelmisch grinst sie. Schadenfreude tut manchmal einfach gut. Aber was ist denn das schon wieder mit diesem «Mama»? irgendetwas in ihr fühlt sich plötzlich vertraut an. Seltsam…, denkt sie. Als sie sieht, dass Edgar und der Kater gut miteinander klarkommen, tritt sie auf den Balkon und zündet sich eine Zigarette an. Gedankenverloren bläst sie den Rauch in die Luft und beobachtet, wie sich die zarten grauen Schlieren irgendwo verlieren und schliesslich auflösen. Edgar streitet lautstark mit dem Kater, der sich nun in den verblassten Zwerg verbissen hat.

Dieses Tier enttäuscht nie, dachte Marianne etwas grimmig.

 

«Mama! Mama! Dein Kater hat meinen Zwerg, er will ihn auffressen!»

Entnervt drückt Marianne die Zigarette aus. Den Aschenbecher sollte wie wirklich wieder mal leeren. Mehr als noch eine weitere Zigarette hat nun wirklich keinen Platz mehr. «Was ist denn, Edgar?», seufzt sie. Und als der Junge zu ihr aufblickt, sieht sie etwas in seinen Augen. Etwas glitzert darin, warte, es kommt ihr ungewöhnlich vertraut vor. Mama…, denkt sie verdutzt. Doch was ist es?

 

Vielleicht war das wohl eine Zigarette zu viel, denkt sie. Ich werde sentimental. Aber zugegebenermassen fühlt es sich nicht zwingend schlecht, oder falsch an… Bloss irgendwie ungewohnt. Oder wie etwas, dass ich irgendwo hingelegt habe, aber mich nicht mehr daran erinnern kann, wo genau. Was auch immer. Mir scheinen auf diesem Balkon tatsächlich allerlei Gedankensorten zu begegnen – auch neue. Derart in Gedanken versunken, tritt sie in das Wohnzimmer und vergisst dabei, die Balkontüre hinter sich zu schliessen. Edgar und der Kater wälzen sich noch auf dem Teppich. «Habe ich dir eigentlich bereits etwas zu trinken angeboten, Edgar?» sagt sie zu dem Jungen.

Edgar blickt auf und antwortet: «Nein, aber ich nehme gerne ein Glas Cola.»

 

Der Kater nutzt diesen Moment der Unachtsamkeit Edgars aus und verschwindet mitsamt dem Zwerg im Maul hinter dem altmodischen Sofa. «Der kommt schon wieder.» sagt sie zu ihm. Also das denke ich. Edgar zuckt bloss mit den Achseln.

 

Sie geht in die Küche. Ihr Roiboos-Tee steht noch neben dem Wasserkocher und ist bereits lauwarm geworden. Sie öffnet die Kühlschranktür, an der eine alte Postkarte mit einem gelben VW-Bus Magnet fixiert ist. Man kann noch schwach die Buchstaben S-e-v-i-l-l-a am Rande der vergilbten Karte erkennen, wie auch ein Gebäudeumriss und davor irgendein Kanal.

 

Der kleine weisse Kühlschrank scheint nicht gerade kulinarische Höhepunkte zu bieten. Aber das ist wohl auch passend zu Mariannes Leben - nicht viele Höhe- und Tiefpunkte sind zu verzeichnen. Eher ein stetig konstantes Dasein, umgeben von Menschen, die irgendwelchen Tätigkeiten nachgehen, und sich gegenseitig sagen, was wichtig ist im Leben. Wie lange bin ich bereits in dieser Wohnung, fragt sie sich. Wohl lange genug, dass ich mich nicht mehr an die Geschichte hinter dieser Karte erinnern kann.

 

«Also Cola kann ich dir nicht anbieten – entschuldige. Aber ist auch ein Glas Orangensaft in Ordnung für dich?»

Edgar nickt bloss, während er aufmerksam die Küche wahrnimmt. Vor allem die alte manuelle Kaffeemühle aus Holz scheint sein Interesse gewonnen zu haben. Er streckt seine Finger nach der Handkurbel aus und versucht diese in Bewegung zu setzten. Aber sie macht keinen Wank.

«Hier das ist für dich.»

Marianne streckt ihm ein Glas Orangensaft entgegen.

«Danke…» erwidert Edgar kurz und hebt das Glas an seinen Mund.

 

Wieder ist da diese Stille zwischen den beiden - in der ganzen Küche. Oder gar in der gesamten Wohnung - während der alte orange Kater genüsslich den kleinen Zwerg hinter dem Sofa auseinanderzerrt. Vielleicht ist die Stille sogar zwischen den grauen Klotzballkonen, oder auch am Ufer des Flusses, der die Stadt durchströmt, an diesem sonnig warmen Tag. Ehrlich gesagt weiss ich es nicht so genau, liebe*r Leser*in. Vor allem weiss ich noch nicht ganz genau, was es mit dieser Geschichte auf sich hat, und vor allem mit dem Plan des Jungen - das ist mir noch nicht ganz klar - aber interessant, durchaus interessant ist, dass in diesem Moment die Stille zwischen den beiden nicht unangenehm ist.

 

Marianne betrachtet, wie Edgar sein Glas Orangensaft gemächlich leer trinkt. «Was machen wir mit dem Zwerg?» sagt sie zum ihm – leise, als wolle sie die Stille nicht erschrecken.

«Ich sehe da nur eine Lösung: Ich muss wohl wiederkommen.», antwortet Edgar mit einem breiten Grinsen.

Marianne nickt bloss, und vielleicht geht sogar einer ihrer beiden Mundwinkel fast schon unmerklich nach oben  - vielleicht - doch das ist genug, dass Edgar es mit seinen aufmerksamen Augen zu erkennen meint.

 

Manch einer sagt, dass Edgar nie wieder in Mariannes Wohnung kam. Dass der Zwerg zerrissen hinter dem Sofa von Marianne liegen blieb und die beiden sich aber im Labyrinth der grauen Klotzbalkone gelegentlich erblickten.

Was mich angeht, mag ich die Version am meisten, dass hier zwischen den beiden etwas entstand - ja, dass das sogar Edgars Plan von Beginn an war. Und der graue, verblichene Zwerg sinnbildlich für Mariannes bisheriges Leben steht. Zerrissen weicht es etwas Neuem: einer Freundschaft.


Herzlichen Dank an die Autor*innen: André, Andrea, Lara, Alexandra, Anja, Jil und Flavio!

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