Ich wusste zwar, was ich sagen wollte, konnte aber nicht mehr richtig sprechen. Auf einmal kamen nur noch zerquetschte Worte über meine Lippen. Ich konnte mich nicht mehr verständlich machen. «Wortfindungsstörung», schoss es mir durch den Kopf! Typisches Symptom eines Hirnschlages! In mir stieg Todesangst auf. Jetzt sterbe ich womöglich. Einfach hier, an diesem Schreibtisch, an einem ganz normalen Tag. –
Die
Wortfindungsstörungen liessen bald nach. Die anschliessende Untersuchung im
Spital ergab zum Glück, dass diese Beeinträchtigung ein neuartiges Symptom der
mir sonst bekannten Migräne war – und grundsätzlich nicht gefährlich.
Ich atmete auf. Aber die Erfahrung der Todesangst hallt in mir nach, insbesondere ihr Inhalt: Dass ich nämlich meine Lieben nicht mehr sehen würde. Jetzt würde ich einfach hier sterben, ohne je mich von ihnen verabschieden zu können.
Todesängste sind wohl Erfahrungen der fundamentalsten Art, die Menschen machen können. Jenseits unseres kognitiven Zugangs zur Welt, machen sie in einem fast instinktartigen Reflex bewusst, was für uns die grösste Bedeutung hat. Mir wurde in diesem Erlebnis klar, dass es offenbar Beziehungen zu nahen Menschen sind, derer ich am meisten bedürftig bin. Der Verlust von wichtigen Beziehungen wiegt schwerer als das Entschwinden des Selbst. Oder präziser: Die Erhaltung des Selbst realisiert sich in tragenden Beziehungen zu anderen Menschen (und zur ganzen Mitwelt). Ich als Mensch bin ein Beziehungswesen. Ich bin, wer ich bin, durch und aus Beziehungen.
Beziehungen
können wir nur leben aufgrund unserer Leiblichkeit. Mittels unserer Sinne
kommunizieren wir miteinander. Auch die Intuition – der sogenannte «sechste
Sinn» - wird häufig als Körpergefühl erfahrbar. Unser Leib ist das Medium,
durch das wir mit der Welt im Austausch stehen. Unser Leib ist der Sensor,
durch den wir Bedeutsamkeit erfahren und das Instrument, mit dem wir
Wert(schätzung) ausdrücken. Es gibt keine Selbst- und Welterfahrung ohne Leib.
Das Christentum
fundiert und erweitert diese Einsicht in seinem Glaubensbekenntnis: «Ich glaube
an die Auferweckung des Leibes». Es geht dabei nicht um die Verlebendigung
einer Leiche. Vielmehr wird hier zum Ausdruck gebracht, dass unser Sein, das
nur in Beziehungen existiert, Zukunft und Bedeutung hat - über unsere Angst
hinaus, das Leben mit seinem Beziehungsreichtum zu verlieren.
Das alles macht mich nachdenklich im Blick auf die gegenwärtige Situation, die von uns gewichtige Einschränkungen unseres leiblichen Austausches fordert. Was bewirken die andauernde Nötigung zum Abstandhalten, das Verbergen unseres halben Gesichtes, der Verzicht auf Umarmungen, die Einschränkungen von Besuchen und Kontakten, die leeren Weihwassergefässe in Kirchen, die Isolations- und Quarantänebestimmungen?
Einige
dieser Massnahmen sind wohl angemessen. Allerdings sollten wir sie in ein
Verhältnis setzen zum schleichenden Schaden, den sie uns als leibbasierte
Beziehungswesen zufügen, insbesondere, wenn sie auf Dauer gestellt werden. Was
macht es mit uns, wenn wir uns daran gewöhnen, uns als potentielle Bedrohung
wahrzunehmen? Vor allem sollte uns klar
werden, dass die Erhaltung von Leben letztendlich gerade nicht durch die Verhinderung von leiblicher Nähe erreicht
werden kann, sondern nur durch sie!
Dass dies kein schöngeistiger Gedanke ist, sondern handfeste Realität, wurde mir kürzlich durch einen Offenen Brief der Pflegefachfrau Marianne Straub Ruetz an den Bundesrat deutlich. Sie berichtet darin von ihrer alltäglichen Spitex-Praxis. Etliche Covid-19-Erkrankte würden ins Spital eingeliefert, weil wegen der Corona-Massnahmen all ihre sozialen Ressourcen blockiert sind, die sonst durchaus eine Pflege zu Hause ermöglichen würden. «Die Patientin mit mittleren Symptomen, positiv getestet, muss in (Spital-)Isolation sein, zwei ihrer Angehörigen sind schon in Quarantäne, weil sie mit ihr Kontakt hatten, werden per Telefon vom Kontakt-Tracing kontrolliert … . Nachbarn, Töchter, Söhne, Enkel, Freunde dürfen alle nicht mehr kommen. … Keiner darf da sein, um die Patientin zwischendurch zur Toilette zu begleiten, um ihr einen Tee oder eine Suppe zu reichen, um die nass geschwitzte Bettwäsche zu waschen, um einen kühlen Lappen auf die Stirn zu legen, um ihr etwas vorzulesen, um zu lüften, den verschütteten Tee aufzuwischen, einen Brustwickel zu machen.»
Leser*innen mögen einwenden, dass ich mich mit meinem persönlichen Erlebnis und dem Bericht von Frau Straub Ruetz nur auf anekdotische Erfahrungen stütze. Wo denn da die Studien seien, die diese Ausführungen erhärten?
Ja, ich
plädiere dafür, dass wir anekdotische Erfahrungen wertschätzen. Sie sind in der
vielschichtigen, konkreten, leiblich-sozial vermittelten Wirklichkeit
verwurzelt, während (natur-)wissenschaftliche Studien einen hohen
Abstraktionsgrad aufweisen, der zwangsläufig etliche Dimensionen der
Erfahrungsrealität - insbesondere die von Wert und Bedeutsamkeit - ausblendet.
Darum sollten neben wissenschaftlichen Studien - die es durchaus braucht - eine möglichst grosse Vielfalt von anekdotischen Erfahrungen in die Entscheidungsfindung
zu den Corona-Massnahmen einfliessen.
Thomas Schüpbach-Schmid, Hochschulseelsorger
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