Kürzlich blätterte ich in meiner Agenda, um, wie so oft, die kommenden Wochen zu planen. Plötzlich hatte ich den 31. Dezember erreicht und stellte fest, dass das Jahr nur noch drei Monate lang ist. Oh Schreck. Nun gut, 2020 war ja wirklich ein, sagen wir, «spezielles» Jahr.
«2020» ist mittlerweile zu einer eigenen Zuschreibung geworden, zu einer Metapher für alles, was schiefgehen kann. Zugegeben, 2020 war bisher nicht so, wie wir uns das wohl alle vorgestellt hätten. Die Zukunft ist ungewiss, ein Ende nicht absehbar. Manchmal ertappe ich mich bei der Frage, ob ich meine Zwanzigerjahre ohne «Die-Welt-entdecken», ohne Tanzen bis zum Morgengrauen und statt mit Menschen mit Abstandhalten verbringen möchte. Die naheliegende Antwort lautet natürlich Nein. Wenn ich die Frage allerdings umformuliere in: «Möchte ich meine Zwanzigerjahre voller Hoffnung und Vorfreude auf die Zukunft verbringen und auf dem Weg zu optimistischen Zielen aus Missgeschicken und Fehlern lernen?», dann klingt die Antwort bereits ganz anders. «Ach, das sind ja zwei ganz unterschiedliche Fragen» wird mensch mir antworten. Aber, nein, es ist ein und dieselbe Frage. Beide fragen danach, wie ich mir meine Zwanzigerjahre vorstelle. Während die erste Frage auf Konkretes, Materielles und Messbares fokussiert, setzt die zweite Unkonkretes, Abstraktes, Nichtfassbares ins Zentrum.
Was fällt noch auf? Die erste Frage enthält einen kindlichen «Ich-will-und-erhalte-aber-nicht-und-bin-deshalb-unzufrieden»-Ton. Die zweite Frage ist optimistisch, sie ist reifer und sie löst sich von kurzlebigen, vergänglichen Dingen. Ist 2020 wirklich so schlimm? Ich habe das Privileg, studieren zu dürfen und gesicherte Arbeitsverhältnisse zu haben, ich habe ein Dach über meinem Kopf, stets genug zu essen, mir fehlt es an rein gar nichts, ich bin gesund und ich habe Menschen, die (m)ich liebe(n). «Ja klar, aber ich wollte in diesem Jahr doch…» Natürlich, ich wollte noch so vieles. Aber in der Vergangenheit wollte ich auch noch so einiges. Bisher ist jedoch auch stets etwas Gutes dabei rausgekommen, dass Dinge mal nicht so gelaufen sind, wie ich das gerne gehabt hätte.
Wir Menschen haften bekanntlich allem Möglichen an – vom Offensichtlichen, Materiellen zu unserer täglichen Routine, unseren Beziehungen bis hin zu unseren Vorstellungen darüber, was normal ist. Wir sprechen von der Rückkehr zur (neuen) Normalität, ohne zu fragen, was «normal» eigentlich ist. Ist «normal» nicht schlicht ein konstruierter Zustand, den ein gewisser gesellschaftlicher Mainstream kollektiv als das anzustrebende und zu bewahrende Ideal definiert hat? Diese Einsicht und ein Blick in die Geschichte zeigen gleichermassen jedoch, dass «normal» sich stets verändert (hat) und andere Zuschreibungen erhält. Bis 1991 war es normal, dass frau in der Schweiz nicht abstimmen durfte. Einige mögen mir selbstverständlich widersprechen, aber diese Normalität darf von mir aus gerne in den Geschichtsbüchern verstauben. Das ist natürlich nur ein Beispiel. Die Geschichte hat uns immer wieder gelehrt, dass das einzig Konstante der Wandel ist. Aber wir stampfen lieber mit den Füssen und schmollen acht Monate lang, dass früher oder «before Covid» – das BC der zeitgenössischen Geschichte – doch alles viel besser war. Nun, ist die Krise dadurch schneller vorbei? Helfen wir damit anderen Menschen? Zaubern wir einer Person ein Lächeln ins Gesicht? Verbreiten wir Freude? Leisten wir einen konstruktiven Beitrag zur Gesellschaft? Ist es das Verhalten mündiger Erwachsener?
Das Einzige, das wir kontrollieren können, sind unsere Reaktionen auf das Unkontrollierbare. Und wenn ich im Jahr 2020 etwas gelernt habe, dann, dass die glücklichsten Menschen nicht die sind, die von allem das Beste haben, sondern diejenigen, die aus allem das Beste machen. Deshalb ist «2020» für mich keine Metapher für Murphy’s Law, sondern für «mein Jahr». Und übrigens, auch im Oktober blüht es draussen noch. Wie machst du aus 2020 «dein Jahr»?
(Jil Kiener, stud. Interreligiöse Studien)
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