Mein Gefühlshaushalt war während den vergangenen Wochen eigentlich kaum
von der Angst bewohnt und Corona für mich kein Schrecken. Das änderte sich, als
die Philosophin Carolin Emcke in der TV-Sendung «Sternstunde Philosophie» die Corona-Krise als «welthistorische Zäsur» deutete. Was, wenn nach
dieser Krise vieles, was mir wichtig ist, nie mehr so sein wird wie vorher?
Was, wenn die Abstandmassnahmen bleiben, grosse Sportveranstaltungen nicht mehr
möglich sind, Feste nur noch auf Sparflamme gefeiert werden können, digitale
Überwachung zum Muss wird und das Leben zwischen den Menschen insgesamt
distanzierter, kälter, ärmer? - Schrecklich!
Ja, die Angst ist seither eine Besucherin geworden, die ab und zu
unangemeldet vorbeikommt. Ich habe mich entschieden, ihr nicht die Türe zu
weisen. Manchmal lade ich sie (mit den üblichen Abstandsmassnahmen
selbstverständlich) an den Tisch und versuche zuzuhören, was sie mir zu
erzählen hat. Und da geht mir auf, dass ich von der Angst erfahren kann, was
mir wichtig ist. Denn dieses Wertvolle will ich ja nicht verlieren. Darum kommt
dieser Gast immer wieder vorbei. Ja, die Angst zeigt mir, welche Werte ich lebe - nicht nur die im Kopf, gerade auch die im Bauch!
Weil wir sie lieben, oder doch, weil sie uns wichtig sind, fürchten wir,
dass nahe Menschen oder gar wir selbst am Virus schwer erkranken oder sterben
könnten. Und das darf nicht sein! Darum sind wir bereit, gegen das Virus
Schutzwälle aufzurichten, uns von unseren Liebsten fernzuhalten; bereit,
Massnahmen zu treffen, die uns gewaltig einschränken und die zig Milliarden
kosten. Wir tun das Menschenmögliche, um die Ansteckungsgefahr unter Kontrolle
zu bringen und zu halten.
Und da merke ich jetzt, wie sich in mir Widerspruch gegenüber dem Gast
am Tisch regt. Ist das wirklich mein / unser Wichtigstes? Was alles sind wir
denn längerfristig bereit, dem Vermeiden des Todes unterzuordnen, besonders
wenn wir daran denken, dass es ja immer nur um ein Vertagen des Todes geht.
Denn sterben werden wir alle. Aber, da muss ich jetzt sehr ehrlich vor mir
sein: Wäre ich denn - als einer, der schon bald zur sogenannten
Risikogruppe gehört - selber bereit, allenfalls an dem Virus zu erkranken,
vielleicht auch zu sterben, damit Kinder auch in Zukunft unbeschwert
miteinander spielen können, Künstlerinnen auf dem Gurten musizieren werden, das
innovative Start-up eine Existenzgrundlage für die junge Familie bietet, auch die alten
Menschen von ihren Angehörigen besucht werden dürfen?
Ich lebe wirklich gerne, ich liebe das Leben. Aber ich möchte nicht
krampfhaft an meinem Leben hängen, wenn ich anders dazu beitragen kann, dass
sich auch künftig das Leben vor dem Tod in seiner Fülle entfalten
kann. Weil ich weiss, dass Menschen, um seelisch und körperlich gesund zu
bleiben, ab und zu eine Umarmung brauchen; weil Menschen auf die Dauer
emotional verarmen, wenn sie sich immer mehr über Bildschirme und
App-Nachrichten begegnen; weil ich die Freiheit sehr hoch schätze, dass
Engagierte sich auf der Strasse für ein politisches Anliegen versammeln dürfen;
weil ich will, dass Bürgerinnen und Bürger sich treffen können, wann, mit wem
und wo sie wollen, ohne dass eine zentrale Stelle dies registriert - darum
möchte ich der Angst nicht mit dem Werteparadigma der Kontrolle, sondern mit
dem der Lebendigkeit begegnen - und lernen, auch in der Unsicherheit zu Hause
zu sein.
Wie komme ich dazu, dem Paradigma der ungesicherten Lebendigkeit Raum zu
geben? Mir kommen die Worte in den Sinn, die Jesus gemäss einer
neutestamentlichen Geschichte1 zu einem Vater spricht, der glaubt, seine kleine Tochter sei gestorben:
«Fürchte dich nicht, vertraue nur!» Das ist kein plattes «Es kommt eh schon
alles gut». Vertrauen, das ist eine der intensivsten Wahrnehmungen und
Erfahrungen von Verbundenheit. Wo ich mich dem Vertrauen öffnen kann, bin ich
ganz dabei, ganz in Resonanz, da halte ich den/die andere/n und bin von ihr/ihm
gehalten.
Anders als das Paradigma der Kontrolle malt uns Jesus die Vision des
Vertrauens als eine der schönsten menschlichen Möglichkeiten vor Augen (siehe
die ganze Geschichte). Wir sind alle zutiefst miteinander verbunden. Wir sind
keine abgetrennten, isolierten Subjekte, die einer zu kontrollierenden und in
Schach zu haltenden Welt gegenüberstehen. Wir sind vielmehr Knotenpunkte in einem vibrierenden
und lebendigen Netz von Beziehungen, das uns mit allen Menschen und der ganzen
Schöpfung verbindet. Wir sind, was wir sind, in und durch diese Beziehungen.
Und ich möchte dem Jesus glauben, dass dieses Netz am Anfang und am Ende
aufgespannt ist in einer Liebe, die das Ganze hält und umfängt. So können wir
nach und nach begreifen, dass auch der Tod und sogar das Virus nicht unsere
Feinde, sondern ein Teil dieses Netzes sind. Das Virus kann uns Anstoss sein,
zu fragen, wie wir leben wollen. Und der Tod ermöglicht in uns eine Trauer, die
unsere schönste Fähigkeit zur Liebe hervorruft.2
Die Angst ist ein ungebetener Gast. Dennoch habe ich versucht, ihr
zuzuhören. Und ich will ihr nun sogar danken. Sie hat mir gezeigt, dass ich dem
Paradigma der lebendigen Verbundenheit dienen will.
Thomas Schüpbach-Schmid
Hochschulpfarrer und Leiter des Reformierten
Forums
1 Markus-Evangelium 5,21-24.35-43
2 Zur Vertiefung dieser Gedanken siehe Charles Eisenstein, Die Krönung (https://charleseisenstein.org/essays/die-kronung/ )
Vielen Dank für diesen Beitrag Thomas. Du sprichst mir sehr aus dem Herzen!!!
AntwortenLöschenDanke Sophia, das freut mich wenn mein Blog Resonanz auslöst!
LöschenWow, mega ermutigend und tiefgründig! Danke
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